Rückblickend kann man sagen, dass es mich erstaunt, wie ich das alles in den Griff bekommen habe. Ich meine die Depression. Die war das schlimmste. Jeder der diesen Satz liest und noch niemals eine hatte, hat keine Vorstellung davon, was es bedeutet, depressiv zu sein.
Das schlimmste an der Depression ist nämlich, dass man seine Handlungen und sein Denken nicht mehr kontrollieren kann und völlig willkürlich, eher aber: meist gar nicht handelt. Das ist sehr positiv angesichts der erschreckenden Suizidzahlen. Meine Antriebslosigkeit hat mich in der Zeit so manches Mal vor schlimmerem gerettet. Das begann schon morgens beim Aufwachen: man fühlt sich unglaublich matt, auch im Kopf. So als sei man am Tag zuvor einen Marathon gelaufen und habe währendessen ein geistig komplexes Schachturnier absolviert. Bei mir kam immer die Nackenverspannung dazu, die das abendliche Depressionstief ankündigte. Und natürlich die Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Das Nicht-lesen-können: Buchstaben verschwammen wie Fische, die bloße Konzentration auf einen Satz der Fernsehzeitung löste Verzweiflung bei mir aus. Für mich bedeutete nur die Nackenverspannung: vorsorgen. Das nötigste einkaufen, weil ich die nächsten vier bis sechs Tage nicht mehr dazu komme. Zudem keine Schokolade, keinen Kaffee, noch weniger Alkohol, nichts was triggert. Lieber schlafen als traurig-emotionale Musik hören. Totale Vorsorge eben, solange es noch geht.
Und dann kam sie. Oftmals schleichend, was mir einen gewissen Vorsprung gab. In einem Internetforum lernte ich, dass man während der Depression auf garkeinen Fall weitreichende Entscheidungen treffen soll (wie denn auch, wenn mich die Auswahl eines Nachtisches im Restaurant schon dermaßen überfordert dass ich fast heule). Ich wollte einige Male Dinge entscheiden, die katastrophale Auswirkungen gehabt hätten. Das war also eine gute Sache, die ich gelernt habe.
Wenn sie in voller Blüte der neue Mitbewohner meines Körpers (eher: meiner Psyche) geworden war, lernte ich gewisse Dinge, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Erstmal, so lächerlich es klingt, dass es möglich ist, eine ganze Woche komplett im Bett zu verbringen, im abgedunkelten Zimmer. Ich lernte, Dinge anders zu bewerten. Es war für mich eine unglaublicher Erfolg, wenn ich es geschafft hatte, zu spülen. Dass auf dem Schreibtisch noch unbezahlte Rechnungen lagen, war hintergründig. Für mich bedeutete es etwas, wenn ich es schaffte, zu kochen (und sei es auch nur, Gemüse zu schälen und ohne alles zu essen), oder für ein paar Stunden keine negativen Gedanken zu haben, weil ich mich dem Nicht-denken-können absolut ergab. Man kann dann nicht anders.
Leider bin auch ich in die fiese Falle der Selbstüberschätzung getappt. Am Anfang bin ich nicht mal auf die Idee gekommen, dass ich Hilfe brauche. Ich, die anderen tagtäglich mit ihren Problemen hilft und sie therapiert. Die leicht manischen Tendenzen verhinderten bei mir die Selbsterkenntis. Ich habe keine Ahnung, ob ich manisch-depressiv war oder bin. Ich erkannte einfach nur die Tendenzen, von “himmelhochjauchzend zu Tode betrübt” wie Goethe immer so schön sagte. Morgens noch schaffte ich alle angestauten Aufgaben der letzten Wochen in einem Rutsch, gönnte mir etwas zuviel (Dispo), war überschwänglich gut gelaunt und ignorierte negatives Denken. Um dann am Abend in einen Weinkrampf sondergleichen zu fallen, aus dem ich ohne fremde Hilfe nicht mehr herauskommen würde. Und um dann die nächsten zwei, drei Tage still dazuliegen und nichts zu tun, weil es nicht ging.
Bis heute habe ich keinen Therapeuten besucht, weil selbige alle ausgebucht sind. Alle Ratgeber schreiben: suchen Sie einen Therapeuten auf. Ich habe an die zehn in meinem Umkreis angerufen und alle haben mich auf Oktober verwiesen (das war im April!). Ich finde das sehr beunruhigend. Ich habe mich über Bipolarität, Hochbegabung und Serotoninwiederaufnahmehemmer eingelesen. Das Tryptophan nehme ich ab und an, leider hat es die Nebenwirkung dass es einen Tag hilft, die beiden folgenden Schlaflosigkeit verursacht. Aber es hilft, das ist, was zählt.
Wie genau ich aus der letzten Depression herausgekommen bin, kann ich immer noch nicht klar einordnen. Vielleicht war es die Erkenntnis des Tryptophanmangels durch Fruchtzuckeraufnahme (habe eine FM), vielleicht die einleuchtenden Erfahrungsberichte der Hochbegabten. Auf alle Fälle war es das Gespräch mit meinem guten Freund und das erstmalige Gefühl, wirklich verstanden zu werden. Irgendeiner seiner Sätze hat bei mir einen Schalter umgelegt im Kopf. Seitdem kriege ich es hin, habe einen Tagesablauf und befolge ihn problemlos, nur manchmal hakt es noch. Bin routiniert. Gehe nach dem Prinzip “Getting things done” vor, nach welchem ich einschätze, in welchen Aufwandsbereich die auszuführende Tätigkeit einzuordnen ist: sofort erledigen oder aufschieben?
Zudem bringe ich mir selbst bei, wie man richtig lernt. Wie schon früher erkannt kann ich als visueller Mensch nichts einfach so aufnehmen, sondern muss es durch Grafiken und Schemen darstellen, damit es sich mein fotografisches Gedächtnis behält. Mindmaps sind der Schlüssel zum Erfolg, denn ich bin jemand der zu jeder Zeit des Tages vernetzt denkt, ich kann nicht einen Punkt anschauen ohne ihn mit zehn weiteren zu verbinden, kann nicht einkaufen gehen ohne all anderen zu erledigenden Tätigkeiten sinnvoll geordnet in die Reihe einzufügen. Also Mindmaps, denn die vernetzen die Fakten und sind gleichzeitig Grafiken, die ich mir besser merken kann. Zur Zeit lerne ich noch Chemie, da ist das noch nicht anwendbar, aber sobald Zoologie 2 dran ist werden Mindmaps, Grafiken und optisch ansprechende Vokabelerinnerungen erstellt.
Oftmals fand ich mich in der Klausur wieder und konnte den einfachsten Term nicht rezitieren, während mir auf Anhieb verschiedene chemische Formeln oder CSS-Skript-Tips oder Stoffwechselvorgänge einfielen. Klingt verrückt, ist aber der schlimmste Blackout: Du weißt etwas total Komplexes, wirst aber nach etwas total Simplem gefragt. Daher rührt auch mein Anwendungsproblem bei Matheklausuren, das sich dann als Matheschwäche manifestierte. Zuhause hatte ich den kompletten Überblick über die Aufgaben und konnte Muster erkennen. In der Klausur jedoch ist dieses Muster vertauscht oder verändert: Das Prinzip “Muster abarbeiten” funktionierte nicht mehr. Zudem kommt hinzu, dass bei Analysis 1 nicht sehr viel grafisches zu finden ist. Aber da muss man durch.
Zudem liegt meine Kreativität ur Zeit brach. Ich traue mich auch garnicht an sie heran, da ich Angst davor habe, in alte Muster zurückzukehren. Kreativität war für mich immer gleichbedeutend mit Brainstorming, Nächte durcharbeiten bis die Lösung gefunden ist, alle Möglichkeiten ausloten, Fast Food, Schokolade, Bier, gute Musik und wenig Schlaf. Also alles, was einen geregelten Tagesablauf nicht gerade fördert. Am schlimmsten waren die Zeiten vor und nach der Depression, weil ich durch sie besonders kreativ wurde und die Nacht in den Tag verwandelte, die Uni sausen ließ und mich mehr mit CSS-Skripten und Javascript beschäftigte als mit Anatomie, Photosynthese und Biochemie. Kreativität bis zur Selbstaufgabe.
Ich weiß, dass Webdesign für mich die einfachere Alternative wäre. Aber ich habe mich nie mit etwas abspeisen lassen und Biologie ist meine Herausforderung. Zudem fürchte ich, dass ich als Webdesigner/im Bereich Medien in genau diesen, oben genannten Kreislauf zurückfallen könnte, weil mir mein Beruf natürliche Grenzen setzt. Und mit Grenzen konnte ich noch nie etwas anfangen.
Ich habe keine Ahnung ob die Depression endgültig weg ist. Ich wünsche sie mir nicht zurück, vermisse sie aber schon teilweise. Alleine der kreative Input war es wert, diese Qual zu erleiden. Ich habe eine Ideenbox die so reichhaltig ist wie ein Gewächshaus. Ich werde auf jeden Fall noch nachprüfen lassen, was mit meinen Neurotransmittern falsch läuft.
Ich weiß nicht, was das Leben von mir will. Ich will nur eins: glücklich sein. Ich werde einfach alle Wege mal abgehen und schauen, wo es mir gefällt, und dort bleibe ich, bis etwas Neues kommt.
Allen, die das hier lesen und sich ein wenig wiedererkennen, hoffe ich, vielleicht etwas geholfen zu haben. Zur Zeit ist meine Rastlosigkeit verschwunden, und das ist gut so. Ich werde mich jetzt erst mal um meine körperliche Gesundheit kümmern und schauen, was geht. Ich habe noch so viel vor! Ich dachte, ich schreibe meine Erfahrung mal auf, auch, um sie nochmal hervorzuholen, sollte mich die Depression nochmal einholen.
Was ich in all der Zeit gelernt habe, ist, dass ich ohne meine Freunde und Familie nicht weit gekommen wäre. Das ist die volle Wahrheit. Während der Depression und auch nach wie vor bin ich lost in the crowd und will einfach nur ganz weit weg, aber dass meine Freunde trotzdem immer für mich da sind und auf mich zukommen, gibt mir unheimlich viel. Zudem habe ich gelernt, dass Intelligenz etwas unheimlich belastendes sein kann und man sie auch für kriminelle Dinge verwenden kann, wenn man nur will. Ich finde, es ist eine der schwierigsten Aufgaben, das Leben zu bewältigen, wenn man wie ich überall Potential sieht und nie zur Ruhe kommt. Auch wenn es nicht in meinem Sinn war, diese Ruhelosigkeit zu drosseln, so merke ich doch, wie gut es mir tut. Ich werde versuchen, auf diesem schmalen Grat zwischen Ausdauer und Aufgabe, wie ich immer so schön sage, zu balancieren und nicht abzustumpfen noch zuviel Input zuzulassen. Diese Lektion musste ich mir selber beibringen.
Und das hier musste mal gesagt werden, weil ich das bin und dieses Weblog von mir über mich ist. Und weil ich gerne Tabus breche und auch das Unausgesprochene aussprechen möchte, weil es sonst niemand sagt.
ps: und in diesem Zusammenhang habe ich gerade mal wieder ein Blog gefunden das mein Leben, Denken und Fühlen zu hundert Prozent widerspiegelt – und diese Dame hat ADS. Heißt das jetzt, dass ich ADS habe? Hm. Kümmer ich mich morgen mal drum. Hasse Schubladen. 😉