Wenn man eine Weile in dieser Stadt gelebt hat, dann merkt man erst, wie grau sie ist. Ich denke nicht dass das an der Stadt liegt. Es liegt an der Geschichte der Stadt. Ohne die Geschichte wäre die Stadt eine ganz andere. Aber das kann niemand wissen, weil es nie so gekommen ist.
Viele Häuser sind eher Bauklötze in den Farben grau und ausgeblichenes Weiß. Die meisten aber sind mit roten Backsteinen gebaut. Rote Backsteine stehen für Schutz, und genauso wirken die Fronten auch: Wie ein Wall vor äußeren Einflüssen. Sobald man die Türe hinter sich geschlossen hat, kann nichts und niemand mehr in diese Sicherheitszone eindringen. Das Gefühl von Sicherheit ist ein sehr wichtiges Gefühl. Damals, als die Häuser errichtet wurden, war der Krieg vorüber und die Menschen hatten ein Bedürfnis nach genau diesem Gefühl.
Rote Backsteine bedeuten auch Ruhe. Man lässt das Leben draußen. Kann abschalten. Blicke in die Außenwelt gelingen nur durch die Fenster. Rote Backsteine sind zwar rot, oder eher bräunlich-rot, aber die Farbe geht irgendwie unter. Was bleibt ist das Gefühl von Ausgeschlossensein. Wenn man eine Minute vor so einem Haus stehenbleibt, fühlt man sich so. Als gehöre man nicht dazu. Als wäre man kein Teil von dem Leben, das sich im Inneren der Wände abspielt.
Was wäre, wenn die Backsteine gelb wären? Oder in einem hellen Blau? Oder sogar garnicht da? Wenn ich ein Künstler wäre, würde ich große farbige Laken vor die Häuser hängen. Und dann warten, bis sie die ganze Stimmung verändern. Denn wenn sich die Stimmung verändert, verändern sich manchmal auch die Menschen, die täglich in der Stimmung hin- und herwandeln. Vielleicht würde ich auch ein paar mehr Bäume pflanzen. Das Grün der Blätter verdeckt zwar vieles, aber es stimmt die Menschen positiv. Natur bedeutet Veränderung.
Damals haben die Menschen sich nach Backsteinhäusern gesehnt, die alles Fremde und Gefährliche, die Kälte und den kühlen, starken Ostseewind draußen lassen. Sie wollten ihre Ruhe nach so langer Zeit voll Lärm.
Doch irgendwann kommt die Zeit, wo man die Fenster und Türen öffnen muss, denn es ist der Sommer des Lebens. Viele Jahre sind vergangen und die Menschen sollten lieber wieder vor die Türe gehen. Weniger Zeit hinter den Backsteinmauern verbringen. Wenn man nicht aufpasst, verpasst man diesen Punkt. Danach geht es scheinbar wie in Zeitlupe weiter. Die Veränderungen die draußen eintreten bemerkt man kaum; zu sehr sitzt noch dieses Gefühl der gewohnten Ruhe in einem. Wenn man nicht aufpasst, wird der sichere Schutzwall zu einer unüberwindbaren Mauer. Einer abweisenden Wand. Sie bedeutet dem, der davor steht: Ich möchte nicht sehen wer du bist, nicht hören was du sagst.
Was mir sehr fehlt in dieser Stadt sind Rolläden. Auch sie sind ein Symbol für Schutz, Schutz vor äußeren Einflüssen. Aber es ist nicht persistent. Denn schon am Morgen werden sie hochgezogen mit diesem klappernden, kratzenden Geräusch. Es sagt: Guten Morgen, hier bin ich, ich lasse Licht und Welt in meine Wohnung. Ein Ritual, eine Gewohnheit die nicht abweisend wirkt, nein, sie wirkt einladend.
Was mir manchmal sehr fehlt in dieser Stadt ist Sommer. In vielen anderen Städten, die wenig Backsteinhäuser haben, bemerkt man die Jahreszeiten nicht so sehr wie hier. Es sind keine vier mehr, es sind zwei. Entweder ist es warm und sonnig oder es ist stürmisch, es regnet immer wieder über den Tag verteilt, und die Wolken rasen im Ostseewind nur so über den Himmel. Sehr wenige Tage, an denen es nicht regnet. Und wenn es das einmal nicht tut, bemerkt man es erst sehr spät. Nicht alles ist schlecht hier. Es gibt viele schöne Orte und ich mag wie das Wasser an der Mole plätschert und die Wildgänse auf der Wiese vor der Uni Rast machen. Ich mag es, Menschen zu treffen, die mir ähnlich sind, das verbindet. Ich mag die Abende mit meinen Freunden. Mag die Kerzen auf der Fensterbank. Den Kaffee im Café. Es ist nicht alles schlecht.
Wenn ich tatsächlich etwas ändern könnte, ohne in Pessismismus zu verfallen, würde ich tatsächlich die Laken vor die Häuser hängen. Die Menschen könnten die Fensteröffnungen hineinschneiden. Aber bald würden wie merken, was eine Farbe auf sie bewirkt. Wenn ich etwas ändern könnte, würde ich die Menschen bitten, etwas freundlicher, vorurteilsfreier, weniger voller Erwartungen zu sein, die hochgestochen und von niemandem zu erfüllen sind. Erwartungen sind wie Backsteinwände: Sie weisen ab. Wenn ich etwas ändern könnte, wäre es vermutlich die Geschichte. Aber sie ist ein wichtiger Teil dieser Stadt. Sie ist nicht der Grund für alles. Aber für vieles.
Für jemanden wie mich, der nicht abweisend wirken möchte und Licht und Welt reinlassen will fällt es schwer, diese Dinge zu verstehen. Es geht nicht darum, sich zu beschweren. Es geht darum, wie man sich fühlt. Wenn man sich nicht wohl fühlt in einer Stadt, fällt es sehr schwer, in ihr zu leben. Ich kann nicht verstehen, warum niemand ein Bedürfnis hat, diese Dinge zu ändern und die Laken hervorzuholen. Die Dinge wirken manchmal so leblos und gleichbleibend. Niemand scheint nach Veränderung oder Bewegung zu streben. Dabei ist es doch die Bewegung, die das Leben ausmacht. Oder bin das nur ich, die das findet?
Ich bin mir sicher, dass es irgendwo Bewegung gibt. Nur findet sie hinter Backsteinmauern statt. Sie lässt kein Teilnehmen oder Mitarbeiten zu. Ich bin ein Teamplayer. Vielleicht fällt es mir deswegen so schwer.
Niemand kann die Geschichte mehr rückgängig machen. Die Menschen, die in dieser Stadt leben, sind all das gewohnt das mir sonderbar erscheint. Niemand kann etwas ändern wollen das er nicht einmal bemerkt, das alltäglich und normal für ihn ist. Ich weiß, dass ich eines Tages zurückkehren werde in die Stadt, in der ich alles als alltäglich empfinde. In die Stadt mit der rheinischen Fröhlichkeit. Dort, wo sich die Menschen nicht so ernst nehmen. Weil sie keine solche Geschichte erlebt haben und Backsteinhäuser errichten mussten. Einem Besucher aus dieser Stadt würde wohl die Fröhlichkeit auffallen. Ob er dann verstehen könnte, was ich meine?
Einerseits wirken diese Beschreibungen und Empfindungen für einen Außenstehenden fremd und unsinnig. Für jemanden, der lange hier lebt umso mehr. Er wird sich fragen: Wenn all diese Dinge so störend sind, soll sie doch gehen. Aber ich kann nicht gehen. Denn auf der anderen Seite fasziniert mich diese Stadt, weil sie das völlige Gegenteil zu dem ist was ich kenne. Das kann auch ein Ansporn sein, für einen selbst. Ein Ansporn, das beste daraus zu machen. Man wächst mit seinen Herausforderungen.
Wenn ich eines gelernt habe in der Zeit in der ich hier lebe, dann nicht, dass man sich nicht so anstellen soll. Sondern, dass alles seine guten und seine schlechten Seiten hat und man irgendwie damit klarkommen muss. Und ich habe gelernt, dass man immer erst merkt was man hat, wenn es nicht mehr da ist. Ich kann also nicht gehen. Oder vielleicht immer mal wieder, und dann merken was fehlt.
Wenn ich etwas ändern könnte, würde ich alles so lassen wie es ist. Denn wenn ich es wirklich, wirklich wollte – hätte ich es wohl längst getan.