Die Morgendämmerung naht. In der Dunkelheit wirken die Äste der Bäume wie die Arme gefährlicher Ungeheuer. Du atmest die kalte, klare Luft durch die Nase ein. Sie ist ein Zeichen dafür, dass heute der richtige Tag und jetzt der richtige Moment ist; so etwas geschieht nicht oft. Du machst deinen Weg durch das Dickicht, das Laubholz zerbricht krachend und knirschend unter deinen Füßen. Dein Instinkt leitet dich in die richtige Richtung. Du spürst schon den Luftzug- und wie sich die Härchen deiner Arme widerstrebend aufstellend. Da ist keine Angst – nur Respekt. Und die Hoffnung auf ein Gefühl, das du ersehnst seit du denken kannst.
Und dann stehst du an der Kante. Vor dir eröffnen sich weite, tiefe Gebirgshänge. Ihre Schluchten reichen bis ins Unsichtbare, und das vom Nachtblau verfärbte, gräulichrote Gestein wirft hier und dort Schatten, die dich erstarren lassen könnten. In dir regt sich ein aufkeimender Funken Ehrfurcht, gebündelt mit der Vorstellung eines Versehens, eines Unglücks, eines… Du weißt warum du hier bist. Es gibt nichts was dagegen hält. Es gibt nichts das es ersetzt. Du ziehst die Gurte fest, checkst die Reißleine, prüfst deine Sicht mit einem scharfen Blick. Du prüfst, ob dein Gehirn vollständig arbeitet. Es gibt kein zurück.
Da ist ein Song in deinem Kopf. Als du seine Klänge zum ersten Mal hörtest, wusstest du, er würde dich bis an den Ort seines Ursprungs und deines Traums begleiten. Und hier ist er, er klingt ein, läuft an, erzeugt dieses unglaubliche Gefühl in deinem Bauch, du bist eins mit der Natur, der Klippe und dem dämmernden Himmel über dir. Du trittst zurück, nur wenige Schritte, du hast es tausendmal gemacht, nicht nur in deinem Kopf, und diesmal ist es real…
Und dann läufst du los, läufst, bis kein Boden mehr unter deinen Füßen ist, sich dein Körper von der Beschleunigung mitgerissen verliert, du reißt die Augen weit auf und spürst dieses unglaubliche Glücksgefühl, mit jedem gefallenen Meter wird es stärker, du schreist laut aus…!
Du fliegst. Du schwebst durch die Luft, so kommt es dir vor. Du hast in einem Wimpernschlag all das vergessen was dich bedrückte, nimmst nur noch die deinen Körper umströmende Luft wahr. In deinen Augenwinkeln ein Panorama wie kein Siegerschnappschuss, nein, eine ganze Leinwand, mit echten Farben und in 3D. Du schluckst den Kloß in deinem Hals herunter. Das ist wahre Freiheit. Das ist besser als alles was du gekannt. Das ist dein Element, es saugt dich in sich auf und gibt dich nicht mehr frei, es trägt dich…
Die Sonne geht auf und wärmt dein Gesicht.
Weiße Wolkenschwaden zeichnen Verzierungen in das Pastellblau am Horizont.
Das Panorama erstrahlt in tausend leuchtenden Tönen.
Unbewusst ziehst du die Leine, unbewusst geht alles schneller als gehofft, und viel zu bewusst naht sanft der Boden, der dir zuvor noch Angst einflößen wollte. Nun wirkt er unscheinbar und ungefährlich. Noch einmal atmest du die frische, eiskalt-klare Luft tief in dich hinein, und fällst, schwebst die letzten Kilometer, auf den sicheren Grund zu, der nicht deiner ist, denn sicher bist du nur hier oben, im freien Fall, bodenlos und ungefangen.
Und noch bevor deine Fußspitzen die Erde berühren können, weißt du mit nie geglaubter Sicherheit, dass sie dich wieder nach oben tragen werden, ob sie wollen oder nicht.
Ich will auch— aber in Deutschland macht das nicht so wirklich Spaß. Im Grand Canyon ist das sicher geil…. 🙂